Featuring: Jean-Pol Martin – 7 Fragen an… oder: Was bleibt, wenn Du tot bist…


Irgendwann im Januar 2009 hab ich Jean-Pol Martin entdeckt. Ich glaube, der erste Blog-Artikel, den ich von ihm gelesen habe, war: „Konsumiere Menschen nicht! Auch nicht in Twitter!“ Diese Haltung hat mich sofort überzeugt. Ich selbst unternahm gerade meine ersten Gehversuche auf Twitter und fühlte mich manchmal nackig, manchmal aufdringlich, oft überflüssig und fragte mich immer wieder nach dem Maß und nach dem Sinn… Fragen nach Authentizität im Netz bewegten mich (hierzu war ich auch mit anderen, z.B. Mirko Lange von Talkabout) im Gespräch. Jean-Pol’s Tweets führten mich zu seinem Blog – und sein Blog war so ziemlich genau das, was mir selbst immer vorschwebte: ein Knotenpunkt für alle persönlichen Projekte, ein echtes Internettagebuch über sämtliche Ideen und sich weiter entwickelnden Gedanken (er würde sagen: „Konzeptualisierungen„).

Wer ist Jean-Pol Martin?
1943 in Paris geboren, war Jean-Pol Martin von 1980 bis 2008 Französischdidaktiker an der Universität Eichstätt-Ingolstadt. Neben der Veröffentlichung mehrerer Lehrbücher steht er hinter dem pädagogischen Konzept Lernen durch Lehren (LdL), das an Schulen und Hochschulen Lernerfolge durch starke Eigenbeteiligung der Lernenden erzielt. Ich will hier keine Vita herunterbeten – wer mehr harte Fakten wissen will, schaut einfach bei Wikipedia nach…

Viel wichtiger: Was ich an Jean-Pol besonders schätze!
– sein Verständnis von „Netzsensibilität
– seine Definition von „Informationsverarbeitung als Grundbedürfnis
– sein Anspruch an den Umgang mit Menschen im virtuellen Kontakt
– seine Idee vom Pre-Expertentum
– seinen Glauben an das Potenzial der Weltverbesserung

Jean-Pol Martin ist seitdem für mich ein wertvolles Modell geworden, von dem ich lerne – und mit dem ich mittlerweile via Twitter im persönlichen Austausch stehe, was mir eine riesige Freude bereitet! Wer meinen Blog mit seinem Blog vergleicht, wird durchaus Ähnlichkeiten in der Konzeption entdecken…

… und hier kommt mein INTERVIEW MIT JEAN-POL MARTIN

Am vergangenen Samstag, 2. Mai 2009, hatte ich das Vergnügen, Jean Pol spontan mit 7 Fragen zu einem Gedankenaustausch anzuregen – so von PC (Hamburg) zu PC (Ingolstadt). Ganz Neuronen-like, hat er mir innerhalb von nur zwei Stunden geantwortet!

Die Göre: Dein erster Eintrag in Deinem Blog ist vom 6. Mai 2008. Du hast mal geschrieben, dass Du Deinen Blog gestartet hast, weil dir jemand gesagt hat, ohne Blog seiest Du im Web quasi ein Niemand, nicht existent… Doch Du warst ja schon lange vorher im interaktiven Netz unterwegs, zum Beispiel auf dem ZUM-Wiki oder auf Wikipedia.

Wann hast Du das interaktive Internet erstmalig für Dich entdeckt – und was hat das für Dich – für Dein Arbeiten, Deine Kontakte zu Projektpartnern sowie für Deinen Kontakt zur (Fach)Öffentlichkeit – verändert?

Jean-Pol: Der Vernetzungsgedanke ist bei mir sehr fest verankert seit 1980. Damals besichtigte ich eine Ausstellung von Friedrich Vester über die ökologischen Zusammenhänge in der Natur (Vernetzte Welt, oder so ähnlich). Da ich politisch bei den Grünen-Alternativen engagiert war, basisdemokratisch eingestellt (aus meinen 1968 Jahren in Paris) und bereits offene Unterrichtsmethoden praktizierte, lebte ich subjektiv als vernetzter Mensch. Als ich 1980 LdL entwickelte und in Ermangelung von institutioneller Unterstützung (Unikollegen, Ministerium) Partner unter Lehrern suchte und fand, war klar, dass wir uns vernetzen sollten. Das lief alles über Kontaktbriefe und Post, ich verschickte alle zwei Monate 700 Pakete an die interessierten Lehrer.

Und dann kam das Internet. Das veränderte alles. Ich richtete mir sofort eine Homepage ein und mein erstes interaktives Forum eröffnete ich in der ZUM am 12.03.2000. Ich wusste: das ist es!

Ein bisschen später (2001) führte ich ein Projekt durch, bei dem ich mich über ein ZUM-Forum durch New-York von Deutschland aus lotsen lies. Das hat enorm Spaß gemacht und war damals sehr innovativ. Ich habe auch darüber einen Aufsatz [PDF] verfasst.

Die Göre: Mit Deinem Blog und der Nutzung von Twitter bist Du ja noch einen Schritt weiter gegangen. Hat sich seitdem noch einmal etwas verändert?

Jean-Pol: Die Intensität und die Menge der Interaktionen hat sich stark erhöht. Dadurch bekomme ich mehr Impulse und verarbeite vielmehr Informationen. Das entspricht dem in allen Menschen vorhandenen Bedürfnis nach Informationsverarbeitung, das ich in einem Blogeintrag beschrieben habe. Mein Leben ist dadurch noch intensiver und ich vermute, dass mein Gehirn schneller arbeitet und dass ich dadurch intelligenter werde.

Die Göre: Im Zusammenhang mit Deiner Teilnahme am letzten Educamp 2009 hast Du geschrieben, dass Du über das Internet eine sehr tiefe Verbindung zu Menschen aufbauen kannst, die Du dann erstaunlicher Weise in real life – zum Beispiel bei ersten Begegnungen auf dem Educamp – gar nicht in dem erwarteten Maße noch mehr vertiefen kannst.

Mal eine ketzerische Frage: Können (ausschließlich) virtuelle Verbindungen persönlich tragende, emotional bedeutsame Verbindungen sein?

Jean-Pol: Selbstverständlich. Das erlebt man beispielsweise im Rahmen intensiver Zusammenarbeit in der Wikipedia, wo Menschen sich hassen und lieben, aber immer bezogen auf ihr gemeinsames Ziel, die Erstellung eines Artikels.

Die Göre: Du hast ja auch einmal über „Liebe“ gesprochen. Ich beschäftige mich persönlich gerade intensiv mit dem Konzept „Freundschaft“. Was ist Dein Verständnis von Freundschaft und in welchem Zusammenhang erlebst Du Freundschaft?

Jean-Pol: Der Begriff kommt mir „weich“ vor. Dennoch erlebe ich Freundschaft mit Menschen, die sich um mich sorgen (oder umgekehrt, für die ich sorge) ohne beruflichen Kontext. Es sind Menschen, die ich „mag“ ohne gleich eine Begründung dafür liefern zu können. Du siehst, das ist nicht mein Spezialgebiet.

Die Göre: „Lernen durch Lehren“ ist eines Deiner (beruflichen) Lebensprojekte. Mich beschäftigt seit viele, vielen Jahren die Methode „Fernunterricht“ in der Erwachsenenbildung – neudeutsch auch „DistancE-Learning“ genannt, weil das den Einsatz der Neuen Medien im didaktischen Konzept stärker hervorhebt als der etwas altmodisch klingende Begriff „Fernunterricht“…

Lässt sich LdL Deiner Meinung nach nur im Präsenzunterricht umsetzen oder wo siehst Du Anknüpfungspunkte im Bereich DistancE-Learning, wenn also LehrerIn und LernerInnen räumlich voneinander getrennt sind und auch nicht zeitlich synchron miteinander kommunizieren?

Jean-Pol: Ich habe selbst an der Uni Eichstätt einen Kurs ins Leben gerufen, in welchem Projekte virtuell mit Präsenzphasen durchgeführt werden: http://www.projektkompetenz.de (also blended learning). Es haben bereits mehrere hundert Studenten in diesem Rahmen internationale Projekte durchgeführt. Hier geht es aber, wie bei anderen E-Learning Arrangements in erster Linie um gemeinsame Wissenskonstruktion in virtuellen Räumen. Bei LdL ist die intensive Kommunikation zur Transformation von Informationen zu Wissen im Unterricht zentral. Insofern ist die Präsenz schon sehr wichtig für den LdL-Unterricht.

Die Göre: Kannst Du Dir vorstellen, Dein LdL-Modell auf andere Lebensbereiche auszudehnen?

Jean-Pol: Klar, denn LdL ist auch eine Haltung. Man verhält sich offen und freundlich, man steht positiv zu Menschen, die ja Ressourcen beherbergen. Das Leben liefert Anlässe, solidarisch zu handeln und gemeinsam Wissen zu konstruieren. Alles schön, alles gut! Cum grano salis! 🙂

Die Göre: … statt einer 7. Frage an Dich: Was würdest Du mich eigentlich gern mal fragen?

Jean-Pol: Wie soll ich mich verhalten, damit du weiter an meinem Denken dranbleibst? Was wird in dir von mir bleiben, wenn ich gestorben bin? Diese Fragen würde ich jedem/jeder stellen, damit kein Missverständnis aufkommt! 🙂

Die Göre: Die zweite ist eine wirklich große Frage! Die erste lässt sich schnell beantworten: Dein Tempo im Denken und Handeln gepaart mit Deinem Humor und die Mischung aus Konzeptualisierung und Anakdotischem, dazu Deine Zugewandtheit und Dein Charme – das wird mich immer wieder fesseln… Zur zweiten Frage: Was schon jetzt in mir bleibt von Dir, habe ich oben bereits aufgelistet (was ich an Dir schätze…) – vor allem aber: Deine Weise, mit anderen Menschen gemeinsam zu denken (= zu lernen!).

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Video-Interviews mit Jean-Pol Martin

Jean Pol Martin über Lernen durch Lehren – Educamp 2008

Jean-Pol Martin über Menschen als Neuronen – Educamp 2008

Jean-Pol Martin über das Konzept „Liebe“ – Educamp 2008

Jean-Pol Martin über Beziehungen auf Twitter und in real life – Educamp 2009

Jean-Pol Martin über Neuronen und Weltverbesserungsprojekte (z. B. Benin) – Educamp 2009

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Jean-Pol Martin im Netz:

Wikipedia-Artikel über Jean-Poll Martin
Jean-Pol Martin im ZUM-Wiki
Jean-Pol Martin auf Wikiversity
Jean-Pol’s Weblog
Follow Jean-Pol auf Twitter!

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#BLOG-PARADE: Dieser Artikel ist ein Beitrag zum WissensWert BlogCarnival #4: Der “Netzwerk-Effekt”: Was ist das? Und wie hat er mich vorwärts gebracht?

9 Gedanken zu “Featuring: Jean-Pol Martin – 7 Fragen an… oder: Was bleibt, wenn Du tot bist…

  1. Klar, dass das Porträt mich extrem freut! Und bei deiner persönlichen Beschreibung am Ende: zwar verfärbt sich mein Gesicht nicht (dafür bin ich zu alt), aber innerlich werde ich ganz rot!

  2. „Jean Pol Martin ist seitdem für mich ein wertvolles Modell geworden, von dem ich lerne“ – Da geht es nicht nur dir so!

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