Haben Sie Freunde? diegoerefragt #001


Lieber hören statt lesen?

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Haben Sie Freunde? Halt, antworten Sie nicht zu schnell. Sie können ja noch gar nicht wissen, ob Sie Freunde haben – in meinem Sinne…

anagramm von dörte giebel, 2011

Ich meine nicht Ihre netten Nachbarn, mit denen Sie sich besonders gern treffen, also die auf der linken Seite, während Sie denen von rechts möglichst aus dem Weg gehen bzw. sie nur ertragen, wenn auch die von schräg gegenüber eingeladen sind. Ich meine auch nicht Ihren Lieblingskollegen, mit dem Sie schon so oft beim Bier versackt sind und der sicherlich schon mehr Geschichten aus Ihrem Leben kennt, als Sie glauben, ihm erzählt zu haben (es war nicht immer nur Bier im Spiel…). Ich meine auch nicht die Mutter des besten Freundes Ihres Sohnes, die Sie am Sandkistenrand kennen gelernt haben und die Sie seit Jahren treffen, weil sich Ihre Kinder seit Jahren treffen…

Ich meine Freunde: Menschen, mit denen Sie sich regelmäßig verabreden, ohne dass Sie Ihnen im Laufe eines Mondes sowieso über den Weg laufen. Menschen, zu denen Sie früher einmal in irgend einer anderartigen Beziehung standen – also Ihr Ex-Kollege, die Nachbarn aus dem Dorf, aus dem Sie vor ein paar Jahren weg gezogen sind, die Mutter des Jungen, den Ihr Sohn seit Jahren nicht mehr mit dem A… anguckt. Ich meine Menschen, die bleiben, auch wenn der Rahmen sich verändert. DAS sind Freunde. Menschen, die bleiben, auch wenn die Welt sich weiter dreht. Solche Freunde sind eine sehr seltene Spezies.

Unser Alltag ist voll mit den „naheliegenden“ Menschen, mit denen Verabredungen en passant zu treffen sind – am Arbeitsplatz, über den Gartenzaun hinweg, auf dem Parkplatz vor der Schule. Auf der Strecke bleiben jene „Freundschaften“ eben, die eigentlich nie welche waren – weil es kontextgebundene Verbindungen waren, die ihre Zeit hatten. Das ist nicht schlimm, schon gar nicht im moralischen Sinne. Es ist nur folgerichtig, dass uns Menschen abhanden kommen, weil in einer Woche, in einem Monat kein Platz ist für unendlich viele Verabredungen. In einer Zeit, in der wir mehrmals im Leben den Wohnort und den Arbeitsplatz wechseln und unsere Kinder die Schulen und Hobbies, in einer solchen wechselhaften Zeit haben wir eben auch viele aufeinander folgende Freundschaften Bekanntschaften. Nicht zu vergessen die serielle Monogamie, die mit jedem Beziehungs-Aus einen Wechsel an der Freundschaftsfront mit sich bringt, je nachdem auf wessen Seite sich die schlagen, mit denen man gestern noch entspannt Doppelkopf gespielt hat…

Dabei fällt mir auf, dass serielle Monogamie wiederum auch ein Garant für „echte“ Freundschaften sein kann – wenn man sich zu trennen weiß. Bei Licht betrachtet sind unter meinen fünf „echten“ Freunden/innen – also denen, die über Lebensumbrüche hinweg als kontinuierliche Verabredungen in meiner emotionalen Nähe geblieben sind – drei Ex-Freunde bzw. Ex-Freundinnen. Zum Glück geht es meinem aktuellen Herzallerliebsten genau so, so dass wir hier keine Missverständnisse produzieren. Wir wissen, dass ein/e Ex keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung ist. Wen wir einmal von tiefsten Herzen geliebt haben, der bzw. die hat natürlich das Potenzial zur Freund/in.

Zum Schluss und bevor Sie zu zählen beginnen, möchte ich noch ein bisschen streng werden: Rechnen Sie jetzt hier und heute bitte nur jene Menschen zu Ihren Freunden, die Sie in diesem gerade zu Ende gehenden Jahr mindestens einmal bewusst, absichtlich und mit Muße füreinander getroffen haben. Alle anderen Menschen haben Sie sicherlich (in Ihrer Erinnerung!) auch sehr lieb – Freunde sind das nicht (mehr). Das ist nicht schlimm. Das ist einfach so. Und es ist auch gut, sich das einfach mal bewusst zu machen. Oder wieder zu verändern.

Also, wie viele Freunde haben Sie…? Oder anders gefragt? Wer war einmal Ihr Freund und soll es 2012 wieder werden? So richtig im Hier und Jetzt.

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Meine theoretische Konklusio: Mein Konzept von „Freundschaft“ braucht, um sich voll zu entfalten, viel Zeit und mindestens ein wenig Veränderung in den ursprünglichen Bezügen. Wer mein/e Freund/in bleibt, weiß ich oft erst, wenn er nicht mehr mein Nachbar oder mein Kollege ist oder mein Sohn nicht mehr der beste Freund ihres Sohnes… Diese Freundschaften sind die besonderen Perlen unserer Sozialkontakte, sie sind zeitlos strahlend schön.